Filmkritik "365 Tage"
Ater Crudus, der im Berlinale-Gewinner “Touch me not” (2018) selbst vor der
Kamera stand, erklärt, wieviel SM und Bondage im Netflix-Hype “365 Tage” zu finden sind und ob hier alle Fans von Shades of Grey auf ihre
Kosten kommen.
Knackiger, reicher Typ. Attraktive junge Frau. Dominanz und Unterwerfung. Rollenspiele, Peitschen, Schlagen, Fesseln. Das erwartet der mittlerweile von E. L. James aufgeklärte Deutsche,
wenn er sich auf einen Mainstream-Film mit Schmuddel-Image einlässt. Lang genug ist es her, dass die freundliche Supermarkt-Verkäuferin mit “heißer Lektüre” im Wartezimmer beim Hausarzt sitzt und nur
darauf wartet, dass Christian Grey und Anastasia ihr endlich auch verfilmt das Höschen verzücken. Nun kann man sich mit “365 Tage” erneut mit der Frage beschäftigen, wie gut, schlecht, langweilig,
ausgefallen oder eben normal das eigene Sexleben ist.
Während man sich in Shades of Grey mit viel Mühe noch irgendwie in die Charaktere hineinversetzen kann, dürfte das in “365 Tage” schwer fallen. Es sei denn, man ist ein italienischer
Mafia-Boss, der bei einer Nahtoderfahrung statt dem weißen Licht die Frau seiner Träume sieht und nun obsessiv nach Liebe schreit. Sie dazu entführt, verwöhnt und mit reichlich Macho-Gehabe von
seinem besten Stück überzeugt. Oder man ist eine junge, erfolgreiche Frau in der Hotellerie, die zu ihrem Geburtstag am Pool liegt, während ihr Freund vorgibt, sich den Ätna anzuschauen (eigentlich
aber gerade eine andere Frau vögelt) und die es nur bedingt beunruhigt, wenn sie nach Verabreichung eines Beruhigungsmittels auf einem Mafia-Anwesen aufwacht. Ganz schwierig für den
Otto-Normal-Zuschauer hier Parallelen zum eigenen Leben zu finden.
Also bleibt nur, sich zumindest in punkto Sexualität mal im Film auf die Suche zu machen, was es hier noch so zu entdecken gibt.
Und nur wenn man den Umstand ausblenden kann und möchte, dass es sich bei dieser Geschichte schlichtweg um eine 110-minütige Straftat mit Stockholm-Syndrom-Verharmlosung handelt, dann
könnte man sich mal anschauen, was der Streifen sexuell so hergibt und wieviel BDSM drin steckt. Und das ist gar nicht so viel.
Eloquenter, selbstbewusster Mann, der sich nimmt, was er will. Und eine Frau, die einfach mal mehr erleben will als das, was ihre schnöde Beziehung sexuell so hergibt. Und mit einer
echten Überraschung wartet der Film auch auf - Männer stehen auf Blowjobs. Wirklich. Man hätte es nicht für möglich gehalten. Also das, was nach Jahren der Beziehung für viele Frauen nur noch
notwendiges Übel im Versorgungsmodus ist, weil der Liebste sonst unleidlich wird. Gut, stimmt, das ist jetzt wirklich nichts Neues. Aber “Deepthroat”, also ganz tief in den Mund wie sonst nur das
Stäbchen zum Corona-Abstrich in die Kehle kommt, das ist in einem solchen Format neu. Und in einem einvernehmlichen sexuellen Kontext eben eine Spielart, die man nicht alle Tage in einem “Spielfilm”
zu sehen bekommt.
Neu ist auch, dass die Hauptdarstellerin die Zügel mehr in der Hand hat, als die sonst in solchen Filmen beschriebenen “Devotchen”. Sie macht nicht brav, was ihr gesagt wird. Nein, sie
kokettiert, sie provoziert und scheut sich auch nicht, ihm eine solide Ohrfeige zu verpassen. Ob es Absicht der Macher war, das längst bekannte Klischee zu bestätigen, dass am Ende immer die Frau den
Ton angibt? Weil Männer nun mal von ihrem Männlein getrieben sind, auch wenn sie noch so sehr bemüht sind, das zu verbergen?
Aber zurück zu den Sadomaso-Aspekten im Film. Und hier wird's spannend. Denn von Sadismus, also vereinfacht gesagt sexuelle Erregung durch das Zufügen von Schmerzen, oder aber
Masochismus, also dem Pendant, die sexuelle Erregung durch das Erfahren von Schmerzen, ist weit und breit nichts zu sehen im Film. Hier wird nicht gepeitscht, geklatscht, gehauen oder sonst irgendwie
klischeebehaftet malträtiert. Mal ganz angenehm, dass “sexuelle Abnormalität” nicht gleich blaue Flecken und blutige Ärsche bedeuten muss, wie es andere Streifen dem Betrachter suggerieren.
Mehr im Fokus ist eine Art der Dominanz und Unterwerfung. Und dabei eben auch das Einschränken der Bewegungsfreiheit (Bondage). Und so wenig wie Unterwerfung heißt, die alles erduldende
Sexsklavin zu sein, bedeutet Dominanz, zwangsläufig der durch Schläge strafende Herr im Nadelstreifenanzug zu sein. Vielleicht kann man das durchaus exzessive sexuelle Treiben eher unter der modernen
Bezeichnung “rough sex” einordnen. Pur und animalisch. Also der Zustand, in dem man einfach macht und geschehen lässt. So nimmt er sie sich, wann, wie und wie lange er will. Sie hingegen will genau
das und nimmt sich das Recht heraus, so frei zu sein. Nicht denken müssen.
Und dies ist meiner Erfahrung nach auch der häufigste Grund, warum sich Frauen fesseln, einschränken lassen wollen. Und so hält er sie beim Vögeln, so wie Susi und Jürgen das zuhause
auch tun, einfach an den Händen fest oder greift beherzt zur Spreizstange. Bleibt jedoch kritisch abzuwarten, ob diese sperrigen Stangen-Konstruktionen jetzt tatsächlich so Einzug in die deutschen
Schlafzimmer finden, wie es Sextoys aus der Werbung zur Primetime, Peitschen oder Handschellen bereits vorgemacht haben.
Und apropos kritisch: Noch viel kritischer als der beherzte Griff des Italo-Machos an die Kehle seiner Liebsten, was eine ebenso riskante wie auch in Mode gekommene Spielart ist, ist die
Tatsache, dass dem Film eine essentielle und entscheidende Botschaft fehlt:
Macht was ihr wollt, solange es kompromisslos und unverhandelbar einvernehmlich sowie freiwillig ist. Denn nur dann ist das im Film Gezeigte eine mögliche Bereicherung für eine
selbstbestimmte, bunte und erfüllte Sexualität.